Autor: Olaf Kittel
Der Sohn kommt gerade recht muffelig aus der Schule, wirft erst einmal seinen Ranzen in die Ecke, bevor er kurz seinen Vater und Kater Specki begrüßt. Er lässt sich dann nur mühsam etwas aus der Nase ziehen. Ja doch, Sport und Deutsch machen ihm schon Spaß, aber Sport gibt`s gerade nicht. „Und die anderen Fächer sind ja eh sinnlos.“ Nico, neun Jahre, dritte Klasse nach langem Tag in seiner Schule, die auf soziale und emotionale Förderung spezialisiert ist. Enrico kennt das, er bedrängt den Jungen nicht, lässt ihn erst einmal in Ruhe ankommen. Er weiß genau, was sein Sohn braucht und wie er mit ihm umgehen muss. Seit seiner Geburt 2011 hat er ihn Tag und Nacht betreut und ist seither nicht von seiner Seite gewichen. Nach seiner Mutter fragt Nico heute nur noch selten.
Enrico ist Berliner, ein bisschen hört man das noch. Er hat dort Koch gelernt und dann in einer Kantine gearbeitet. Über das Internet suchte er nach einer Partnerin und fand sie in Königsbrück. Als die Freundin schwanger wurde, entschieden sich die beiden für eine Zukunft in Sachsen. 2011 zogen sie ins Pfefferkuchenstädtchen Pulsnitz. Wenige Wochen später kam Nico zur Welt, mit einem Wasserkopf. Jedes 1000. Baby wird mit zu viel Gehirn- und Rückenmarkflüssigkeit im Hirn geboren. Der Junge wurde sofort notoperiert und ein Schlauch in den Kopf verlegt. Enrico blieb vier Wochen mit im Krankenhaus, dann ging`s sechs Wochen zur Reha. Die Mutter ließ sich nur ab und zu sehen, sie war vollständig überfordert. Sie hat noch einen vier Jahre älteren Sohn aus einer anderen Beziehung.
Nach den dramatischen ersten Wochen wurden Enrico und Nico in ein Mutter-Kind-Heim der Caritas in Dresden aufgenommen. Er war einer der ersten Väter, es heißt inzwischen „Mutter/Vater-Kind-Heim“. Sie bekamen hier zwei Zimmer, Gemeinschaftsküche und Bad sowie Hilfe rund um die Uhr. Das war wichtig in der ersten Zeit, der Vater empfand die strengen Ausgangs- und Besucherregeln sowie die ständige Beobachtung der beiden trotzdem als nervig. Die Caritas hält das aber für nötig, weil hier auch schwierige Fälle untergebracht werden, auch geistig Behinderte mit Kind.
Für Enrico aber war von Anfang an klar: „Ich gebe die Verantwortung nicht ab.“ Sein Sohn sollte bei ihm aufwachsen, eine im Behördendeutsch sogenannte Inobhutnahme kam für ihn nicht infrage. Nico sollte nicht im Heim oder bei fremden Leuten aufwachsen. Und mit der Mutter würde es trotz des Drucks durch Jugendämter und Sozialverbände nicht mehr viel werden.
2013 zogen die beiden dann in ihre heutige Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Wohnblock aus den 60er Jahren, eine ruhige und grüne Gegend mitten im Dresdner Zentrum. „Ein Dorf in der Stadt“, nennt es der Ex-Berliner. Der Vater schläft im Wohnzimmer, Nico hat sein eigenes Reich, vollgepackt mit Spielsachen. Sie haben sich eingerichtet und fühlen sich hier wohl.
Nur arbeiten gehen kann Enrico immer noch nicht. Sein Sohn hat inzwischen sieben Operationen hinter sich und vier Reha-Aufenthalte, der Vater ist immer dabei. Er muss ihn auch daheim ständig begleiten zu Ärzten, bis kürzlich noch zur Schule. Manchmal muss er plötzlich einen Krankenwagen rufen, wenn es dem Jungen schlecht geht. Hinzu kam, dass Nico an ADHS erkrankte, der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Manchmal muss er ihn auch heute noch schnell mal aus dem Hort abholen, wenn die Medikamentenwirkung nachlässt. Bis zu zweimal die Woche fahren sie zusammen nach Gittersee zum Fußballtraining, das Auspowern ist wichtig für den Jungen. „Ich spiele im Mittelfeld“, sagt Nico, „da muss ich am meisten rennen.“
Regelmäßig bekommen sie Besuch von einer Mitarbeiterin von der Caritas. Sie hilft bei Arzt- und Behördengängen. Einen Nachmittag in der Woche spielt sie mit Nico und beobachtet ihn dabei. Er ist immer noch unsicher, sagt sie, fragt dreimal nach. Aber er macht Fortschritte, wenn auch sehr kleine. Mit ihm allein spazieren gehen, ohne den Papa, geht noch immer nicht. Ihre Beobachtungen bespricht sie mit Enrico, sie entscheiden dann gemeinsam über pädagogische Konzepte. „Das klappt gut, der Vater ist sehr reflektiert“, sagt die Mitarbeiterin. „Ich habe selten ein Elternteil wie ihn. Er hat sein Leben voll auf den Jungen ausgerichtet.“ Ihre Gespräche dienten aber auch manchmal dem Frustabbau, und sie will ihn aus der sozialen Isolation holen.
Seit Nico zur Schule geht, bleibt für den Vater etwas mehr Zeit für den Haushalt, aber auch für sich selbst. Manchmal trifft er sich jetzt mit einem Kumpel, auch wenn ihm nicht viele geblieben sind in seiner neuen Rolle. Gern würde er jetzt wieder arbeiten gehen, am liebsten halbtags am Vormittag, aber auch Vollzeit hält er bald nicht mehr für ausgeschlossen. Bisher hat sich allerdings noch kein Arbeitgeber gefunden, der sich auf die Lebensverhältnisse der beiden einlässt.
Das wäre auch finanziell wichtig. Seit Jahren leben die beiden von Hartz IV und Pflegegeld, viel lässt sich damit nicht anstellen. Dieses Jahr waren sie immerhin mal zusammen für sechs Tage an der Nordsee in den Ferien. Als der Kühlschrank und die Waschmaschine kürzlich fast gleichzeitig den Geist aufgaben, war guter Rat teuer. Ersparnisse gibt es keine, die Familie kommt gerade so über die Runden. Sie stellten über die Caritas einen Antrag bei der Stiftung Lichtblick, und hatten schon nach gut drei Wochen das Geld für die Ersatzgeräte auf dem Konto. „Ich bin sehr froh, dass es Lichtblick gibt“, sagt Enrico.
Und, Nico, was wünschst Du Dir zu Weihnachten? „Ein Kuscheltier. Ich sag aber nicht, was für eins. Und das Computerspiel Pokemon Y. Wenn es mit dem Kuscheltier nicht klappt, wäre es nicht so schlimm. Aber ohne Pokemon wäre ich enttäuscht.“
Der Papa schmunzelt, verspricht aber nichts. Mal sehen, was der Weihnachtsmann bringt. Einen Baum gibt es auf jeden Fall, und dann wollen es sich die beiden gemütlich machen. Am zweiten Weihnachtsfeiertag dann fährt Nico zu seinem älteren Halbbruder, neues Spielzeug ausprobieren. Auch er wächst bei seinem Vater auf.