Zum vereinbarten Termin mit der Zeitung um 10 Uhr hat Franz Schulz erst mal keine Zeit. Gerade sind die Essenkübel von Gourmetta in seiner Kantine angekommen, jetzt wird schnell die Temperatur gemessen und nachgewärmt. Kurz vor der Frühstückspause für die Mitarbeiter der Lebenshilfe-Werkstatt in Dresden muss Kaffee gekocht, Salat geschnipselt, müssen Brötchen geschmiert werden. Jeden Tag gibt’s was Besonderes: mittwochs Rührei, donnerstags Würstchen, freitags ungarische Salami-Brötchen – Insider sagen „USB-Tag“ dazu. Die Kollegen aus der Werkstatt für psychisch Kranke sollen sich jeden Tag auf ihre Frühstückspause freuen.
Zeit für einen Rundgang durch das nagelneue Gebäude in der Löbtauer Straße. Eine große Fahrradwerkstatt gibt es hier, Hunderte Räder warten auf geschickte Hände. Eine mechanische Werkstatt erledigt Firmenaufträge aller Art, es gibt eine Stuhlflechterei. Die hellen Räume haben große Fenster, es geht ruhig zu, der Ton ist rücksichtsvoll und zuvorkommend. Menschen arbeiten hier, die dem Leistungsdruck auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht standhalten können.
Franz Schulz raucht dann erst noch eine nach der morgendlichen Arbeitsspitze und entspannt vor dem Gespräch. Sein Leben, so erzählt er dann, lief bis Anfang 20 in ganz normalen Bahnen. In Hoyerswerda ist er aufgewachsen, mit Bruder und Schwester, hat im Zuse-Gymnasium sein Abi gemacht und ist dann zur Bundeswehr gegangen. In der Poststelle dort gefiel es ihm zunächst gut, das Geld stimmte, er verlängerte sogar. Doch dann häuften sich die Probleme, er wurde in einen schweren Unfall verwickelt. Dies alles löste eine Psychose aus – mit Halluzinationen, Wahnvorstellungen und Stimmungsschwankungen.
Nach der Entlassung aus der Bundeswehr versuchte er es an der TU Dresden mit einem Studium. Aber er musste schnell erkennen, dass es für ihn eine zu hohe Belastung ist. Es folgten jahrelange Klinikaufenthalte, bis er schließlich mit um die 30 und mit Medikamenten richtig eingestellt, ein neues Leben anfangen konnte. Sein Berufsberater empfahl ihm die Lebenshilfe e.V. mit ihren geschützten Werkstätten. Aber wenn das so einfach wäre, hier gibt es lange Wartelisten. Eine Bewerbung und viele vergebliche Anrufe später wurde Franz Schulz zum Praktikum eingeladen. Praktika sind unter diesen Umständen besonders wichtig, um zu sehen, ob es funktioniert, für beide Seiten. Es funktionierte so gut, dass er schon am zweiten Tag gefragt wurde, ob er nicht gleich fest anfangen wolle.
Dann unterbricht Franz Schulz das Gespräch, die Kantine öffnet zur Frühstückspause, er flitzt davon. Unterdessen berichtet Werkstattleiter Sven Ponndorf-Gorgas über seine 85 Mitarbeiter. 15 Betreuer gehören dazu und 70 Mitarbeiter mit psychischen Beeinträchtigungen. Aber, dies betont er, auch das sind Mitarbeiter, keineswegs Patienten. „Wir sind ein Arbeitgeber, der Rücksicht auf Beeinträchtigungen nimmt.“ Wichtig ist ihm, dass hier auf Augenhöhe miteinander umgegangen und jeder wertgeschätzt wird. Auch jene, die gibt es hier auch, die so gut wie keine Arbeit verrichten können. Allein die Lebenshilfe in Dresden hat etwa 700 Betreuer und 2.000 betreute Mitarbeiter und ist damit ein ziemlich großer Arbeitgeber in der Landeshauptstadt.
Nach der Frühstückspause taucht Franz Schulz wieder auf und hat jetzt etwas mehr Zeit bis zur Essensausgabe am Mittag.
Er musste damals im Praktikum nicht lange nachdenken über das Angebot der Lebenshilfe, er fing gleich fest an. Er spürte schnell, dass ihm die Arbeit hier Spaß macht und das Team ihm gut tut. Alles viel besser, als allein daheim zu sitzen mit seiner Krankheit. Wie alle hier absolvierte er einen 27 Monate währenden Durchlauf durch alle Abteilungen. Bald war klar, dass die Kantine für ihn genau das Richtige ist. „Es macht mir Spaß, das Essen vorzubereiten und dann auszugeben und zu sehen, wenn es den anderen schmeckt.“ Seit 2014, als das neue Werkstattgebäude fertig wurde, ist er hier beschäftigt. Sieben Stunden täglich, davon sind fünfeinhalb Stunden Arbeit. So passt es für ihn, auch wenn er, wie alle anderen auch, aufpassen muss, dass der Stress nicht zu viel wird. Die Absicht, ihn zum Kantinenleiter zu machen, ist deshalb auch wieder aufgegeben worden, so gern er das gemacht hätte.
Heute ist er sicher: „Ich hätte es hier nicht besser treffen können.“ Seit zehn Jahren hat er keinen neuen Schub seiner Krankheit gehabt.
Sicher liegt das auch daran, dass er alle Möglichkeiten nutzt und nicht nur zur Arbeit kommt aus seiner kleinen Plattenbauwohnung schräg gegenüber. Einmal in der Woche geht er zum Kleinfeld-Fußball der Lebenshilfe-Mannschaft. Sie spielt in einer Liga mit neun Mannschaften geistig und körperlich behinderter Menschen in Dresden und Umgebung. Er ist Innenverteidiger und Kapitän, schließlich hat er in der Jugend Bezirksklasse gespielt. In der letzten Saison hat er seine Truppe zur Sachsenmeisterschaft geführt.
Seine Fußballleidenschaft lebt er auch als Fan von Dynamo und den Bayern aus. Dann geht er schon mal mit seinem Bruder mit dem von der Schwägerin gestrickten schwarz-gelben Fanschal um den Hals zum Spiel, auch wenn das zurzeit keine reine Freude ist. Überhaupt ist ihm die Familie wichtig, er pflegt die Kontakte zu seinen geschiedenen Eltern und den Geschwistern. Seine beiden kleinen Nichten liebt er und zahlt ihnen monatlich fünf Euro von seinem bescheidenen Einkommen aufs Sparbuch. „Für später.“
In der Lebenshilfe hat er seinen Freund Denni Simonowski kennengelernt. Denni ist blind und braucht gelegentlich Hilfe beim Einkauf, gerade auch, wenn der Technikfreak nach den neuesten Geräten „gucken“ will. Inzwischen besuchen sie zusammen auch mal ein Fest oder unternehmen kleine Ausflüge. Denni ist ihm ein richtig guter Freund geworden. Diese Freundschaft gibt ihm aber auch das gute Gefühl, jemandem helfen zu können.
Braucht aber einer wie er Hilfe von Lichtblick? Seine Betreuerin hat kürzlich einen Geschirrspüler für ihn beantragt. Die Stiftung Lichtblick brachte sie damit durchaus ins Grübeln.
Gruppenleiterin Karola Fischer, seit 18 Jahren ist die erfahrene Soziotherapeutin bei der Lebenshilfe tätig, ist überzeugt davon, dass Franz Schulz die Hilfe der SZ-Leser verdient. „Er ist ein Leistungsträger hier, ist sehr kollegial und hilfsbereit, sorgt für eine gute Atmosphäre. Aber neben seiner kleinen Erwerbsminderungsrente erhält er einen Werkstattlohn von 200 Euro. Damit kann er leben, aber Anschaffungen sind kaum drin.“ Einen Geschirrspüler braucht er, weil seine Hände rissig geworden sind von der Küchenarbeit. Aber der Spüler soll ihn auch ermutigen, weiter wie bisher Freunde und Mitarbeiter der Lebenshilfe zu sich nach Hause einzuladen und für sie zu kochen. „Das ist richtig gut für uns alle“, sagt Karola Fischer.
Die Stiftung Lichtblick hat sich dieser Argumentation angeschlossen und ausnahmsweise die Kosten für den Geschirrspüler übernommen, auch wenn kein ausgesprochener Notfall vorliegt. Frau Fischer und vor allem Franz Schulz haben sich sehr darüber gefreut. „Es ist echt eine Ermutigung. Danke, Lichtblick!“
Dann hat er wieder keine Zeit mehr, die Kantine öffnet gleich zum Mittagessen, er will schnell los und seine Vertretung ablösen. Doch da bremst Karola Fischer: „Lass mal, Franz. Deine Vertreterin macht noch weiter. Komm du nach der Aufregung mit der Zeitung erst mal wieder runter. Geh eine rauchen!“
Franz Schulz zögert kurz, lässt sich dann aber überzeugen. Besser so.
Autor: Olaf Kittel