Alexsandra ist ein fröhliches Kind. Sie hat Kraft. Sie könnte einem locker ein Ohr abreißen, sagt ihr Vater. Aber sie hat keinen inneren Halt. Die Muskeln funktionieren nicht, wie sie sollten. Deshalb kann Alexsandra nicht selbstständig sitzen, nicht stehen, nicht gehen, nicht greifen, und sie kann auch nicht sprechen. Auf ihrem Platz am Frühstückstisch steht kein Teller. Sie bekommt das Brötchen mit Butter und Marmelade püriert in den Mund gelöffelt. Sie isst gern. Zu Mittag mag sie, was alle Kinder mögen. Nudeln und Grießbrei geht immer, sagt ihre Mutter.
Mohorn am Rand des Tharandter Waldes. Die Küche liegt im ersten Stock eines Bauernhauses. Auf der Wiese grasen vier Schafe. Wolle an Wolle. Auf dem Hof lebten schon Alexsandras Urgroßeltern und deren Eltern. Das Haus brannte 1855 durch Blitzschlag ab. Mit Gottes Hilfe wurde es wieder aufgebaut. So steht es in schwarzer Schrift auf einem Sandsteinquader über der Tür. Der Stein soll wieder zu sehen sein, wenn alles fertig ist. Noch haben die Bauarbeiter zu tun. Sie setzen einen Schacht bis ans Dach. Noch dieses Jahr soll der Fahrstuhl kommen. Ein kühnes und kostspieliges Projekt. Bis jetzt trägt der Vater seine Tochter täglich über eine schmale Treppe hinab und hinauf. Ungefähr siebzehn Kilo. Zu viel nach seinem schweren Unfall.
Und es sah doch alles so gut aus für die Familie damals im Jahr 2016! Michael und Nicole Genesener hatten sich bei einem Fest ihrer Kindheitsfreundin im benachbarten Grumbach kennengelernt. Er nahm einen Kredit auf, machte das alte Bauernhaus flott mit neuer Heizung, neuen Leitungen und barrierefreiem Erdgeschoss. Seine betagten Eltern zogen runter, und oben zogen Michael und Nicole ein mit deren Tochter aus der vorigen Beziehung. Das Mädchen kam in die Schule. Alexsandra wurde geboren. Weihnachten feierten sie in der neuen Stube. Alles im selben Jahr. „Da war die Welt noch in Ordnung“, sagt der Vater. „Anfang 2017 fing sie an zu kippen.“
Die Schwangerschaft sei normal verlaufen, erzählt seine Frau, auch die Geburt. Die Untersuchungen hätten nichts Auffälliges gezeigt. „Ich war viel beim Babyschwimmen mit Alexsandra, und einmal meinte die Chefin, irgendwas stimme nicht.“ Es begann ein Hindernislauf von Arzt zu Arzt, zu Physiotherapeuten und Osteopathen. „Die Kleine ist bloß spät dran, ihr müsst mehr üben“, hieß es. „Jedes Kind lernt irgendwann krabbeln.“ Der Couchtisch in der Stube trägt Eckenschützer aus Kunststoff. Damit sie sich nicht stößt. Aber Alexsandra krabbelte nicht.
Nach dem Frühstück wird sie vom Rollstuhl in der Küche auf ihren Spielteppich getragen. Ein weiches Landschaftsbild mit Baum und Wiese. Sie liegt auf dem Bauch. Klopft auf den Boden. Manchmal legt sie sich mit einem Ohr auf die Wiese. „Na, Mäusel, hörst du, ob der Opa unten schon Kartoffeln schält?“, fragt die Mutter. Alexsandra lacht. Sie hat große braune Augen. Um sie herum sitzt ein Plüschzoo im Halbkreis, Pinguin, Teddy, Giraffe. Sie wird nicht damit spielen. Das Lachen muss nichts bedeuten. Das Mädchen lacht auch bei Schmerz. „Wenn man jeden Tag mit ihr zusammen ist, merkt man den Unterschied“, sagt die Mutter. „Dann sucht man von oben bis unten die Ursache. Manchmal hat sie nur kalte Füße.“
Der Hindernislauf endete im Sozialpädiatrischen Zentrum der Dresdner Uniklinik. Dort werden jährlich etwa 2.000 Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsstörungen, chronischen Erkrankungen oder Behinderungen betreut. Ein Haus mit Erfahrung. Das Mädchen aus Mohorn machte die Mediziner ratlos. „Sie sagten, sie würden beobachten und hoffen, dass es nicht schlimmer wird“, erzählt Nicole Genesener. Alexsandra wurde in eine internationale Studie aufgenommen. Ein Wissenschaftler in Zürich fand das Gen, das aus der Reihe tanzt. Ein seltener Defekt. Kaum erforscht. In Europa sollen nur zwei Menschen davon betroffen sein. So hat man es der Familie erklärt. „Da hätte man nur heulen können“, sagt der Vater, „das zieht einem den Boden unter den Füßen weg. Es gibt keine Hoffnung auf Heilung.“ Er macht eine Pause. „So gut wie keine.“ Als ließe sich das Schicksal überreden. Alexsandra, meinten die Ärzte, wird keine drei Jahre alt. Jetzt ist sie acht. Vielleicht wird sie achtzig, sagt ihr Vater. Die Eltern denken, dass sie alles mitbekommt, was gesprochen wird. Sie quiekt, wenn es mal nicht um sie geht. Aber wann passiert das schon? „Die beiden versuchen, alles selber hinzukriegen“, sagt Christina Andreas, die Kindheitsfreundin aus Grumbach, bei der sich das Paar kennenlernte.
Wann hatten sie zuletzt Zeit für sich? Zusammen essen gehen oder in ein Konzert? Nicole und Michael Genesener denken eine Weile nach. Sie werfen sich die Namen von Rock-Bands zu. Jahre her. Zum Glück wohnen die Großeltern im Erdgeschoss. Beide sind um die achtzig und nicht mehr gut zu Fuß. Sie können nach Alexsandra schauen. Auch ihnen wird ein Aufzug helfen. Manchmal schiebt der Opa das Mädchen im Rollstuhl durch den Garten und erklärt die Obstbäume. Dann hört die schwarz-weiß gescheckte Katze interessiert zu. „Da kann man mal hintereinanderweg was tun“, sagt Nicole Genesener. Heidebüschel in den Vorgarten pflanzen, zum Beispiel. Sie hat ihren Beruf als Krankenschwester im Freitaler Krankenhaus aufgeben müssen. Drei Schichten und Wochenenddienst. Das war nicht zu schaffen. Jetzt arbeitet sie in einer Frauenarztpraxis in Wilsdruff. Ihr Mann hat einen Bürojob mit Gleitzeit und Stundenkonto beim Wilsdruffer Maschinen- und Anlagenbau. Die Kollegen haben viel Verständnis, sagt er.
Morgens trägt er die Tochter runter zum Fahrdienst. Alexsandra besucht eine Förderschule in Freiberg. Sie wird nicht lesen und rechnen können. Aber sie wird beschäftigt. Stundenweise steht sie in einem Spezialgerät, damit die Gelenke nicht verkümmern. „Sie reagiert begeistert auf andere Kinder“, sagt der Vater. Die Schule bietet auch Ferienbetreuung. Dann wird der Fahrdienst vom Sozialamt des Wohnortes finanziert. Mohorn liegt im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, Freiberg in Mittelsachsen. Auf dem Stubentisch stapelt sich Behördenpapier. Ein endloses Hin und Her. Alexsandra wippt zur Musik aus der Hörbox. Neulich brauchte sie einen Zusatz zum Rollstuhl. Die Kinderärztin schreibt eine Überweisung an das Sozialpädiatrische Zentrum, das schreibt ein Rezept für das Sanitätshaus, das schreibt einen Antrag an die Krankenkasse, die schreibt einen Antrag an das Sozialamt, falls das Zusatzteil nicht gelistet ist. „Dann dauert es auch gar nicht mehr lange, bis der Monteur kommt“, sagt Michael Genesener mit ironischem Lächeln.
Alexsandras Mutter ist 40, der Vater 44, „gefühlt 25“, sagt er. Manchmal kommt man nur mit Galgenhumor über die Dinge. Auf dem Kopf hat er eine Narbe. Er war dem Tod nah.
Er erzählt, wie er vor drei Jahren beim Heuräumen in der Scheune durch die Decke stürzte. Wie er blutend an einem Traktor vorbei auf allen Vieren ins Freie kroch. Wie seine Frau zufällig aus dem Haus kam. „Sonst wär´s das gewesen.“ Schädelbasisbruch, doppelt gebrochene Wirbelsäule, epileptische Anfälle. Anderthalb Monate lag er im Koma. Die Ärzte sagten zu seiner Frau: Es kann sein, Sie kriegen ihn als Pflegefall wieder. „Pflegefall kannte ich schon“, sagt sie. „Eine andere wäre weggerannt“, sagt er. „Wir haben uns und können uns aufeinander verlassen.“ Woher sie ihre Kraft nehmen? Das ist die Antwort.
Man müsse nicht fragen, wie es ihm gehe, hieß es in der Reha-Klinik Kreischa – bei diesem Namen. „Als Genesener wurde ich zum Running Gag.“ Dass er sich 2023 ein Bein brach, erwähnt Alexsandras Vater nebenbei. Nagel im Schienbein. Die Tochter quiekt. Er rollt ihr den Wasserball zu. Fangen kann sie ihn nicht. Doch sie ist wieder Mittelpunkt. „Es ist unsere große Püppi“, sagt Michael Genesener. „Unser Duracell-Hase.“ Alexsandra wippt und klopft ausdauernd auf den Boden. Wenn sie auf dem Rücken liegt, verknotet sie die dünnen Beine. Sie ist schwerstbehindert. Ihr Vater seit dem Sturz zu fünfzig Prozent behindert. Sollte man besser von Defizit reden, von Handicap oder Beeinträchtigung, wie es Sprachreiniger empfehlen? „Ach Gott, da habe ich ganz andere Probleme.“ Ohne Schmerzmittel geht er oft nicht ins Bett.
Ein Problem steht vor der Haustür. Der weiße Turm. Für einen Aufzug fehlt im Haus der Platz. Die enge Steintreppe lässt weder Hebeplattform noch Treppenlift zu. Sie hätten ausziehen müssen. Weg von den Großeltern, weg von Alexsandras vertrauter Umgebung, weg von dem Haus, das die Familie seit Generationen bewohnt? Und wohin? Der Gedanke wurde verworfen. „Außerdem steckt schon so viel Geld im Erdgeschoss“, sagt der Vater. „Aber die Dimension des Ganzen hat uns doch überrollt.“ Das Fundament müsse etwa drei Meter in die Tiefe, meinte der Statiker. Einiges Geld kam aus der Unfallversicherung nach dem Sturz in der Scheune. Alexsandras Pflegekasse zahlt einen einmalig Zuschuss für einen Umbau. Eine befreundete Architektin machte einen guten Preis. Trotzdem reicht das Geld nicht für die Gesamtkosten. Das bringt schlaflose Nächte.
„Es tut weh, wenn man ihre Sorgen miterlebt, weil sie nicht wissen, wie sie das Ganze stemmen sollen“, sagt die Kindheitsfreundin Christina Andreas aus Grumbach. „Aber Mitleid allein hilft nicht.“ Vor ein paar Wochen suchte sie nach Wegen für eine Spendenkampagne. Auf einer Online-Plattform bittet sie mit Einverständnis der Familie um Hilfe für Alexsandras Aufzug. Mehr als 200 Spenderinnen und Spender haben sich schon beteiligt. Mal sind es zwanzig, mal fünfzig, mal zweihundert Euro. Fast täglich kommt was dazu. „Es ist ermutigend, wie viele Menschen Anteil nehmen“, sagt Christina Andreas. „Mancher im Ort traut sich vielleicht nicht, die Familie anzusprechen. Man will ja niemandem zu nahe treten. Über die Plattform kann man helfen.“ Auch die Familienberatungsstelle der Diakonie Dippoldiswalde nahm sich des Falles an. Dank ihrer Vermittlung unterstützt die Stiftung Lichtblick die Geneseners in Mohorn mit einer Spende. SZ-Leser helfen, damit die fröhliche Alexsandra das Haus verlassen kann.
Text: Karin Großmann