Die drängendste Frage für Eltern behinderter Kinder ist, was mal wird, wenn sie nicht mehr helfen können. Besonders dann, wenn ihre Kinder auch als Erwachsene ohne fremde Hilfe nicht auskommen werden. Diese Frage beschäftigt sie ein Leben lang, wirklich quälend wird sie, wenn die Eltern das Rentenalter erreichen und womöglich selbst Hilfe brauchen.
Sigrid Görlich, 70, kennt diese Frage nur zu gut, als Geschiedene in besonderem Maße. Die frühere Erzieherin ist die Mutter von Regine. Die heute 43-Jährige ist autistisch, kann nicht sprechen, sie hat eine Behinderung von 100 Prozent und den Pflegegrad 4. Regine ging einst in den Kindergarten der Mutter und stand dort meist abseits. Mit drei Jahren kam die Diagnose Autismus. Sie besuchte eine Fördereinrichtung, wurde noch in der DDR ein- und wieder ausgeschult. Nach der Wende nahm sie eine Förderschule erneut auf, sie lernte das Schreiben. „Als sie das erste Mal ,Mutti‘ schrieb, kamen mir die Tränen“, erzählt Sigrid Görlich und kann dabei wieder die Tränen nicht zurückhalten.
Stundenweise durfte Regine dann sogar in Begleitung an einem Gymnasium lernen – bis die Förderung für diesen Schulbesuch eingestellt wurde. Heute ist sie in einer Behindertenwerkstatt des christlichen Sozialwerks, faltet dort Stollenkartons und CD-Hüllen.
Im Jahr 2019, Sigrid Görlich war inzwischen Rentnerin, wurde auch für sie die lebenslange Frage quälend: Was wird nur? Sie musste sich einer Operation unterziehen, und es fand sich in Dresden keine Möglichkeit für eine Kurzzeitpflege für ihre Tochter. Die einzige Einrichtung der Lebenshilfe in der Landeshauptstadt war aus Kostengründen eingestellt worden.
Freunde und ihr Bruder halfen über die Zeit im Krankenhaus hinweg. Sigrid Görlich wusste nun aber sicher: Es muss möglichst rasch eine Lösung her. Sie hatte schon gehört von betreuten Wohngemeinschaften – und so zog sie los mit ihrer kühnen Idee, nicht ahnend, was das für ein endloser Ritt durch die deutsche Bürokratie sein würde.
Zunächst musste eine Wohnung her, groß genug, aber auch bezahlbar, natürlich barrierefrei. Sie lief von einem Amt zum nächsten. Es schien aussichtslos. Sie sprach beim Dresdner Oberbürgermeister Hilbert persönlich vor. „Er hat nichts unternommen.“ Erst ein Artikel in der Sächsischen Zeitung brachte dann Schwung in die Sache. Die Eisenbahner-Wohnungsbaugenossenschaft meldete sich, der Artikel hatte sie bewegt. Die EWG war schließlich bereit, im Stadtteil Gorbitz zwei neu sanierte Wohnungen im Erdgeschoss für eine zu bildende Wohngemeinschaft zusammenzulegen. Ein erster wichtiger Erfolg. „Die EWG macht mit dem Mietpreis sicher keinen Gewinn“, ist Frau Görlich dankbar.
Inzwischen waren zwei weitere Elternpaare in das Projekt eingestiegen. Eva-Maria und Lothar Dittmann, sie 71, er 73 Jahre alt, beschäftigte die gleiche Frage wie Frau Görlich. Was wird nur aus unserem Rene? Der 50-Jährige muss mit den gleichen Einschränkungen leben wie Regine Görlich, bei ihm kommt ein frühkindlicher Hirnschaden hinzu.
Während Regine durchaus versteht, was um sie herum geschieht, ist das bei Rene nur eingeschränkt möglich. Er hat bis zum Alter von vier Jahren noch gesprochen, dann nie wieder. „Er ging in einen Kindergarten der Diakonie, die Schwestern waren sehr gut zu ihm“, erzählt Frau Dittmann. „Hier hat er immerhin gelernt, sich selbst auszuziehen und mit Messer und Gabel zu essen.“ Sehr dankbar sind die Eltern der Zehlendorfer Schwester Elisabeth, die zu DDR-Zeiten heimlich Eltern autistischer Kinder aus der Bundesrepublik einlud, um mit betroffenen Eltern in Dresden Erfahrungen auszutauschen. Das Thema Autismus war in der DDR stark unterbelichtet.
Als Dritte beteiligte sich schließlich Familie Müller am Wohnprojekt. Die Eltern sind bereits Mitte 80 und selbst pflegebedürftig. Ihr Sohn Mirko ist ebenfalls autistisch, kann nicht sprechen und hat Trisomie 21, also das Downsyndrom. Er wird seit einiger Zeit von seinen Geschwistern betreut.
Inzwischen ist die Wohnung saniert und im Dezember übergeben worden. Jeder der drei Bewohner bekommt ein eigenes Zimmer, die beiden Männer und die Frau haben jeweils eigene Badezimmer. Gemeinsam sollen sie das Wohnzimmer und die Küche nutzen. Ein kleines Schlafzimmer steht für einen Betreuer zur Verfügung, der – außer in den Werkstattzeiten – Tag und Nacht in der Wohnung sein muss.
Aber bei der Suche nach einem Pflegedienst, der bereit ist, ständig einen Assistenten für die neue Wohngemeinschaft abzustellen, hakt es noch gewaltig. Zwar gibt es einen Rechtsanspruch auf solche Betreuung, die Pflegedienste haben aber auch ein erhebliches Personalproblem. Deshalb sind die Familien noch auf dem Klageweg und hoffen, dass bis Frühjahr eine Lösung gefunden wird.
Sehr dankbar sind alle Beteiligten, dass Cathleen Potthoff von der Diakonie Dresden sie auf diesem schwierigen Weg begleitet, sie berät und ihnen eine Menge Schriftkram abnimmt. Alle Beteiligten sagen heute, dass sie mehrfach so weit waren, alles hinzuwerfen und aufzugeben. Frau Potthoff hat ihnen aber immer wieder Mut gemacht.
Inzwischen fehlen nur noch ein paar Einrichtungsgegenstände, dann könnte, wenn die Betreuungsfrage geregelt ist, im April der Umzug laufen, es sind schon eine Menge Helfer zur Einweihungsparty eingeladen. Bis dahin werden die Eltern und Geschwister mit Regine, Mirko und Rene die Eingewöhnung angehen, sie auf den neuen Lebensabschnitt vorbereiten und mit ihnen gemeinsam tageweise in der Wohnung übernachten. Leicht wird das nicht.
An diesem Nachmittag sitzen sich Regine Görlich und Rene Dittmann in der Sofaecke gegenüber, unbeteiligt. Rene nickt immer wieder ein, im wachen Zustand schlägt er sich gelegentlich. Ist es tatsächlich möglich, dass die drei miteinander klarkommen?
„Unsere erwachsenen Kinder sollen so selbstständig wie nur möglich leben“, erklärt Sigrid Görlich. „Sie sollen die Wohnung als die eigene begreifen.“ Aber sie fragt sich schon auch manchmal, ob es gut gehen wird mit ihrer Tochter und den zwei Männern. Wichtig ist, dass sich die drei schon lange aus einer Werkstatt kennen, in der sie stundenweise arbeiten. Mut macht, dass Regine gern in Gemeinschaft ist und sie auch schon Aufenthalte fern der Mutter gut angenommen hat.
Wenn die drei klug angeleitet werden, ist vieles möglich. Dann können sie gemeinsam Spiele spielen. Regine malt gern. Sie haben auch schon einen Kochkurs besucht, der ihnen viel Spaß gemacht hat. Mit einem Betreuer waren sie einkaufen, haben dann Gemüse geschnippelt und in den Töpfen gerührt. Gemüsepizza und Suppen gehörten zu den Favoriten. Selbst zu kochen könnte vielleicht ein gemeinsames Hobby in der neuen Wohnung werden.
Deshalb war es auch so wichtig, eine voll ausgestattete Küche einzubauen. Die Stiftung Lichtblick hat mit Spendengeldern der SZ-Leser wesentlich dazu beigetragen, dass hier bald die Töpfe dampfen. Die Eltern sind sehr dankbar, dass die Stiftung für einen solchen Lichtblick gesorgt hat.
Noch ist nicht alles klar, wie es laufen wird in der neuen Wohngemeinschaft. Aber die Hoffnung wächst, dass für die drei Eltern die quälendste Frage endlich aus der Welt geschafft wird. Vielleicht kann ja eine zweite Frage, die sie ihr ganzes Leben lang kaum einmal laut zu stellen gewagt haben, auch noch positiv beantwortet werden: Gibt es für uns nach der jahrzehntelangen Betreuungslast noch für ein paar Jahre die Chance auf ein eigenes Leben?
Text: Olaf Kittel