Er hat es sich in seinen bösesten Alpträumen nicht vorstellen können, mal in einem Obdachlosenheim zu leben. Er hatte doch Karriere gemacht, ihm ging es gut, er hatte sicheren Halt in der Familie. Aber Paul Reever (Name geändert) hat es trotzdem getroffen. Zu viel lief mitten in seinem Leben schief. Dem jahrelangen Aufstieg folgte ein jahrelanger Abstieg. Der gelernte Landmaschinenschlosser aus der Oberlausitz absolvierte in den 1990er-Jahren seinen Grundwehrdienst bei der Bundeswehr und muss sich dabei gut angestellt haben. Anschließend verpflichtete er sich längerfristig, wurde bald in ein Nato-Einsatzkommando aufgenommen, stieg zum Zugführer einer ziemlich geheimen Luftlandeeinheit auf, ausgerüstet mit deutscher Uniform und amerikanischem Dienstgrad. Er wurde mit seiner Einheit zu vielen Auslandseinsätzen gerufen. Sie sprangen mit dem Fallschirm hinter feindlichen Linien ab, wurden in Kämpfe verwickelt, beseitigten Minenfelder.
Doch mit Mitte 40 begann sein Leben zu kippen. Damals wurde er nach fast 20 Jahren Dienst altersbedingt aussortiert – und verließ das Militär mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Eine Erkrankung, über die beim Bund niemand gern redet, schon gar nicht in der Öffentlichkeit, und über die viele Soldaten klagen, die in Auslandseinsätzen waren. Die Körper reagieren dabei übel auf unverarbeitete Gefahrensituationen. Zunächst versuchte er sich nach der Bundeswehr als selbstständiger Autoglaser. Das ging nicht lange gut, er musste aufgeben. Als Selbstständiger hatte er aber Anspruch auf soziale Leistungen verloren. Dann warf ihn seine Frau aus der Wohnung, weil er nicht mehr der Mann war, den sie einst geheiratet hatte: krank und total verschlossen. Seine Ersparnisse waren weitgehend aufgebraucht, er hatte sie in die gemeinsame Wohnung und in die Kinder gesteckt, sagt er. Die nächsten Jahre überstand er irgendwie mit Hilfe von Familienmitgliedern. Als die aber nicht mehr länger helfen konnten oder wollten und Rückzahlungen staatlicher Leistungen fällig wurden, musste er kapitulieren. Kein Geld mehr da. Er verbüßte deshalb 2023 zwei Monate Haft und wurde im Oktober schließlich in die Obdachlosigkeit entlassen. Seither lebt er in der Wohnstätte der Wohnungslosenhilfe.
„Ich bin jetzt ganz unten angekommen“, sagt Paul Reever. In den wenigen Wochen in dieser Einrichtung hat er schon erkannt: „Nur mit Hilfe kommt man wieder raus.“ Bisher war er viel zu stolz, um Hilfe anzunehmen und auch nur Bürgergeld zu beantragen. Im Obdachlosenheim aber gibt es zwei junge Sozialarbeiterinnen, Franka Bergmann und Laura Lehfeld, die sich den ganzen Tag um ihn und die etwa 20 anderen Bewohner kümmern. Die lange Gespräche mit allen führen, Kontakte zu Behörden anbahnen, Leistungen beantragen, mit den Wohnungslosen persönliche Strategien entwickeln, damit sie möglichst rasch wieder selbstständig leben können. Gemeinsam mit drei weiteren Mitarbeitern des Heims organisieren sie den Tagesablauf. Die Bewohner müssen sich zwar selbst versorgen, aber es gibt wöchentlich ein gemeinsames Frühstück, es gibt einen freundlichen, warmen Aufenthaltsraum mit Kaffeemaschine. Aber allzu sehr wohlfühlen sollen sich Obdachlose gar nicht, denn manche könnten sich durchaus vorstellen, hier ständig zu leben. Aber das ist nicht vorgesehen, die Plätze werden immer wieder für neue Fälle gebraucht.
Deshalb müssen die jungen Frauen manchmal auch härtere Maßnahmen ergreifen. So hat zum Beispiel ein junger Bewohner vormittags Hausverbot, damit er sich mal aus dem Bett erhebt. Probleme gibt es mit Alkohol und – zunehmend – mit Drogen, meist hinter den Rücken der Betreuerinnen, die ahnen, dass für die Beschaffung Straftaten verübt werden. „Wir können reden, wir wollen Vertrauen schaffen, wir können Therapien anbieten“, erklärt Franka Bergmann, die gerade erst ihr Studium abgeschlossen hat. Mehr können sie aber auch nicht. Paul Reever ist beeindruckt: „Die Frauen machen das richtig gut, Männer könnten das wahrscheinlich so gar nicht. Die Bewohner haben Respekt.“ Gemeinsam haben die Sozialarbeiterinnen mit ihm einen Weg entwickelt, wie er hier wieder rauskommen kann. Das Jobcenter erstellt gerade ein Praktika-Programm, nach dem er klarer sehen kann, welchen Beruf er künftig ausüben will. Es könnte danach eine Umschulung anstehen. Dann folgt die Jobsuche. Schließlich werden sie gemeinsam eine Wohnung für ihn finden.
Franka Bergmann glaubt, dass Reever es Mitte 2024 geschafft haben könnte und für ihn ein neues Leben beginnt. Mitnehmen von hier wird er, ist er sicher, Freundschaften, die es seiner Meinung nach „draußen“ so nicht gibt. Wirklich Freundschaften? „Na ja, vielleicht eher Zweckgemeinschaften mit Respekt und Toleranz“, präzisiert er. Auf jeden Fall eine starke Erfahrung, viele erleben sie zum ersten Mal.
Text: Olaf Kittel