Zum ersten Mal live auf Sendung. Auf diesen Tag arbeiten sie seit Wochen hin. Tamara knuspert vor Aufregung einen Keks nach dem anderen. Arvin kontrolliert zum dritten Mal seine Kamera. Frank Sperling würde den Schülern gern ermutigend auf die Schulter klopfen. Er kommt nicht durch. Stühle und Tische stehen im Weg. Der Club Passage ist gut besucht. Ottmar Schmidt stellt den Gorbitzfunk vor, den er vor drei Jahren gründete: das freie Radio im Stadtteil Dresden-Gorbitz. Seine Frau hat schon Weihnachtsplätzchen gebacken. Programmmacher und Bäckerin tun, was sie tun, ehrenamtlich. Spenden sind willkommen.
Als Frank Sperling eine sinnvolle Tätigkeit suchte, verwies man ihn an Seniorentreffs. Heiteres Gedächtnistraining, Rommé-Nachmittag, Filzen mit Mechthild, solche Sachen. Auch im Nachhinein muss er noch lachen. „Ich habe doch mit Senioren nichts am Hut!“ Er ist 72. Er hat viele Talente. Filzen gehört nicht dazu.
Das Radio kannte er nur als begeisterter Hörer. Er nennt es ein unterschätztes Medium. „Es setzt der Bilderflut etwas entgegen, die sich uns überall aufdrängt und manchmal fast an Körperverletzung grenzt.“ Vom Seniorenradio im Dresdner Medienkulturzentrum bekam er den Tipp, dass der Gorbitzfunk jemanden sucht, der mit Schülern arbeiten will.
Sperling kann sich in andere hineinversetzen, Meinungsstreit aushalten, gute Laune verbreiten. Das lernte er am Theater. Nach dem Studium arbeitete er viele Jahre am Dresdner Staatsschauspiel als Regieassistent. Später kümmerte er sich als Werbeleiter um Plakate, Programmhefte und andere Drucksachen, um ein einheitliches Erscheinungsbild. Corporate Design heißt das heute. Es sah trotzdem gut aus. Sperling hat einen Nerv für Grafik. Er fotografiert selbst viel. Großformatige Aufnahmen stecken in einem Pappumschlag mit dem Aufdruck Orwo. Er ist in Wolfen in einer Familie von Agfa-Arbeitern aufgewachsen. Eines seiner Fotos zeigt Udo Lindenberg, nur das Gesicht, ohne Brille. Seine Schützlinge staunten: Den kennst du?! „Bisschen Anerkennung tut jedem gut“, sagt Sperling. Mitleid bekommt ein Rollstuhlfahrer leichter.
Der Pausenlärm tobt durch die Schule, als Arvin Testrich und Tamara Weinhold am Nachmittag in das Studio kommen. Sie wollen die Livesendung vorbereiten. Der Gorbitzfunk kann im Gymnasium am Leutewitzer Ring einen Raum mit schalldichter Kabine nutzen. Alles selbst gebaut. Vor der Scheibe stehen Mischpult und Monitore. Ein Regal mit ordentlich beschrifteten Kästen, Schrank, Tisch und einige Stühle, mehr Platz ist nicht. Der Hausmeister hat die Schwelle entfernt und den Safe für den Studioschlüssel versetzt. Nun ist das Kästchen im Sitzen erreichbar.
Frank Sperling rollt sich geschickt zurecht. Einmal in der Woche trifft er sich mit Schülern. Tamara und Arvin gehören zur Stammbesetzung. Familiär vorbelastet sind sie nicht. Als ihre Schule beim „Markt der Möglichkeiten“ die Ganztagsangebote vorstellte, entschieden sie sich fürs Radio. Mehr als 32 Millionen Hörer ab 14 schalten es hierzulande jeden Tag ein. Dass man so was selber machen kann, wussten sie nicht. „Jetzt ist das hier wie unsere zweite Familie“, sagt Tamara. „Ohne Gorbitzfunk kann ich mir das gar nicht mehr vorstellen. Sonst würde ich doch nur am Handy sitzen.“ Sie spricht ohne Scheu ins Mikrofon. „Ich bin der kommunikative Typ“, sagt sie. „Ich bin der Technikfreak“, sagt er. Arvin kümmert sich darum, dass die Aufnahmen klappen. „Es ist wie eine Antistresskur, ganz anders als der Alltag zu Hause und in der Schule, man kann echt kreativ sein.“
Frank Sperling hört ihnen amüsiert zu. „Wir sind wie Geschwister“, sagt Tamara, „wir streiten uns bloß besser.“ Die beiden sind zwölf, keine Kinder mehr und noch nicht erwachsen. Sie nennen ihn Fränki. Er hat ihnen das Du angeboten. So kennt er es vom Theater.
Er sagt, dass er viel von ihnen lernt. Sie stellen andere Fragen als die Erwachsenen, bringen überraschende Ideen mit, ein schnelleres Tempo. Per WhatsApp kommunizieren sie ständig miteinander. „Manchmal fühle ich mich ziemlich herausgefordert. Etwas Besseres kann einem nicht passieren“, sagt Sperling. Sie haben ihn gefragt, warum er im Rollstuhl sitzt. Er hat es ihnen erklärt. Dass er mit sechs Jahren an Kinderlähmung erkrankte und fast zwei Jahre im Bett lag. Dass die Ärzte ein Wunder vollbrachten und er wieder laufen konnte. Dass die Krankheit zurückkehrte und er seit 2002 nicht einmal mehr mit Krücken vorankommt. Das Gymnasium hat einen Fahrstuhl und eine Behindertentoilette. Selbstverständlich ist das nicht.
Für die erste Livesendung im Club Passage bereiten Tamara und Arvin Interviewfragen vor. Was halten Sie von Schuluniformen? Wie hilfreich sind Zensuren im Unterricht? Wie viel Digitalisierung braucht ein Gymnasium? Darüber müssen sie sich selbst erst mal klarwerden. Sie diskutieren über Uniformen, über Freiheit und Vorschriften, über soziale Unterschiede und Gerechtigkeit. Und so ist das oft. Gespräche im Studio führen hinaus in die Welt. Frank Sperling tippt die Gedanken nur an. „Manchmal fragen mir die Schüler ein Loch in den Bauch.“ In der DDR hatte er oft mit Laienkünstlern zu tun, mit Arbeitertheater und Kabarett. „Ältere könnten viel mehr von ihrer Erfahrung weitergeben“, sagt er, „es gibt so viele Möglichkeiten!“
Aber was, wenn beim Interview kein Besucher antworten will? „Wir werden schon Antworten kriegen“, sagt Tamara lachend. „Wir haben doch einen Kinderbonus“. Arvin tippt die Fragen in die Tastatur mit allen Fingern. „Das kann ich nicht“, sagt Frank Sperling. „Soll ich dir einen Link schicken zum Lernen?“, fragt Arvin. Nebenbei dokumentiert er alles mit der Kamera wie ein Profi. „Wir müssen noch abmoderieren.“ Doch zum wirklichen professionellen Arbeiten fehlt etwas.
Ottmar Schmidt erklärt es am Nachmittag im Club Passage. Für ihn ist der Gorbitzfunk ein Instrument der Demokratie: „Bürger haben nicht nur das Recht, sondern die Möglichkeit, mitzureden.“ Vereine und Einrichtungen des Viertels sollen sich in Livesendungen vorstellen können, Tipps und Termine bekanntgeben. Der Gorbitzfunk ist eines von über 10.000 Web-Radios, die im deutschen Internet zu hören sind. Er hat außerdem einen Platz bei Coloradio Dresden.
Seit der ersten Rundfunkendung vor hundert Jahren entwickelt sich das Medium ständig weiter. Das Museum Funkerberg in Königs Wusterhausen macht diese Geschichte an einem historischen Ort nacherlebbar. Die Jungen und die Alten von Gorbitzfunk und Seniorenradio würden sich das gern einmal gemeinsam ansehen. Mithilfe des Omse-Vereins ermöglicht die Stiftung Lichtblick die Reise mit einem Sonderbus, in den auch ein Rollstuhl passt.
Über den Frequenzbereich von DAB+ könnten die Nachwuchsradiomacher um Frank Sperling noch viel mehr Hörer erreichen. Zum Beispiel mit ihren Länderporträts. Nach Frankreich sind die Azoren dran. Das liegt am Hausmeister. Weil die Zeit nie für alle Ideen reicht, werden diese auf Zetteln notiert und im gelben Studioeimer gesammelt. Ein Unbeteiligter darf ein Papier herausfischen. „Dann kann niemand an der Entscheidung herumnörgeln“, sagt Tamara. So kam der Hausmeister zu den Azoren. Die Inselgruppe ist für gleichbleibendes Wetter bekannt. Gespräche mit Wettermachern vor Ort und in Dresden sind schon geplant.
Eine andere Anregung kommt zur Livesendung im Club Passage bei Kaffee und Weihnachtsplätzchen. Eine Besucherin sagt, dass sie im Radio gern mehr über das Gymnasium erfahren würde. Darüber, was junge Leute heute bewegt. Tamara nickt heftig. Arvin nimmt es mit der Kamera auf. Und dann sind sie dran. Sie stellen ihre Fragen und werden selbst interviewt. Frank Sperling hat hochrote Wangen. Er hat mal erzählt, was er als Kind nach seiner schweren Erkrankung als Erstes tat: Er bastelte Papierflieger. Wie beim Fliegen, sagt er, so fühlt er sich an diesem Nachmittag.
Text: Karin Grossmann