Die größte Sorge der Familien Nellen an diesen Freitagnachmittag ist, wie Katja wohl die Gäste von der Zeitung behandeln wird. Gleich kommt sie von der Lebenshilfe-Werkstatt fürs Wochenende ins Elternhaus in Klipphausen. Ist sie freundlich? Oder setzt es erst einmal eine schallende Ohrfeige? Oder gibt’s vielleicht einen Tritt vors Schienbein? Hans und Birgit Nellen warnen: Ihre Tochter, die sie liebevoll Trinchen nennen, handelt spontan und reagiert auf leiseste Körpersignale freudig oder krass ablehnend. Sie lebt ihre Gefühle direkt aus, frei von taktischen Erwägungen.
Aber alles geht gut. Katja kommt zur Tür rein, winkt nach kurzem Blickkontakt fröhlich und ruft „Hallo“. Dann wirft sie ihre Tasche ab, läuft an uns vorbei und erstaunlich behände rauf in den ersten Stock. Dort wartet jeden Freitag ein kleines Geschenk auf sie, ein Überraschungsei etwa oder ein neues Puzzle. Erst dann entspannt sie und setzt sich mit in die Sofaecke. Später kuschelt sie sich sogar an den SZ-Fotografen und will ihn nicht mehr loslassen.
Katja ist eine junge Frau von 35, geistig schwer behindert. Pflegestufe 5. Birgit und Hans Nellen sollen sie wie eine Erwachsene behandeln, so empfehlen es Fachleute. Sie wollen das auch, aber es gelingt nicht immer. Wenn sich Trinchen wie ein Kleinkind benimmt. Wenn sie bockt, wenn sie aggressiv wird. Und wenn sie gestützt werden muss oder Hilfe beim Ausziehen braucht. Dann spüren die Nellens nicht nur, dass Katja in den letzten Jahren deutlich an Gewicht zugelegt hat, sondern sie merken auch, wie ihre Kräfte schwinden. Birgit ist 68, Hans 75. Besonders an Tagen völliger körperlicher oder seelischer Erschöpfung taucht diese Frage wie eine große schwarze Wolke über ihren Köpfen auf: Was soll bloß werden?
Birgit und Hans Nellen hatten, als sie sich kennenlernten, beide schon eine Ehe hinter sich und jeweils zwei Kinder. Als Katja unterwegs war, musste sich Birgit Neller einer schweren Operation unterziehen. Es ging alles gut. Dachten sie. Aber zwei Monate nach der Geburt registrierten die Eltern rätselhafte Zuckungen. Die Ärzte brauchten damals Monate, um angemessen zu behandeln. Die Zuckungen ließen nach. Aber Katja wollte nicht krabbeln, nicht aufstehen, so sehr sie auch übten. Mit drei, vier Jahren diagnostizierten die Ärzte eine pränatale Hirnschädigung. Sie galt fortan als „schulbildungsunfähig, aber förderungsfähig“. Katja würde nur das lernen, erfuhren die Eltern, was sie lernen will. Und selbst einfache Dinge könnten Jahre dauern. Sie sollten anbieten, warten, anbieten, warten.
Unglücklicherweise war der Umgang mit solchen Kindern in der DDR alles andere als perfekt. Katja musste monatelog zur Diagnose nach Rostock, allein. Das Kind wehrte sich Händen und Füßen gegen die fremde Umgebung. Sie behielt einen psychischen Knacks zurück. Im Kinder garten hab man sich zwar viel Mühe, aber die Kleinen wurden auch zwangsgefüttert, die Erziehung war viel zu mechanisch. Wenn Katja dann Angst bekam, sich bedroht fühlte, reagierte sie aggressiv, kratze, biss und spuckte. Später, in einer Schulersatzeinrichtung wurde es besser, die Kinder hatten es gut. Dort lernten sie laufen, Treppen steigen, allein essen. Viel davon lastete natürlich trotzdem auf den Eltern. Beispiel: Katja hatte endlich verstanden, dass kaputte Kleidung gewechselt werden muss. Als sie eines Tages ein Loch in ihrer Strumpfhose entdeckte, zog sie die sofort aus. Mitte auf einer Kreuzung. Der Verkehr streute sich, die Tochter ließ sich nicht beirren, die Eltern waren hilflos.
„Wir mussten unser ganzes Lebens umstellen“, sagt Hans Nellen. „Wir wollten das auch“, ergänzt Birgit Nellen. Sie gab ihre Arbeit als Berufsausbilderin auf, später und bis heute engagiert sie sich in der Behindertenbetreuung. Hans Nellen, einst mit gutem Job in einem Rechenzentrum, schulte nach der Wende um und ging ebenfalls in die Behindertenbetreuung. So wurden die Eltern zu Experten.
Viel gelernt haben sie bei Frau Dr. Freund aus Dresden, die in der DD die erste Autismus-Ambulanz gründete. Sie trainierte Eltern, wie sie am besten Fortschritte erreiche. Schokolade in kleinste Stücke zu zerteilen, um jeden Entwicklungsschritt sofort zu belohnen. Oder: Das Reißverschluss-Schließen lernt sich leichter, wenn erst das einfache Hochziehen geübt wird und dann erst das schwierige Einhängen. Es dauerte trotzdem Jahre.
Von Montagvormittag bis Freitagmittag lebt und arbeitet Katja, seit sie erwachsen ist, in der Lebenshilfe-Werkstatt in Dresden. Sie montiert dort einfache Plastikteile. Einige Mitbewohner sortieren Knetmasse-Rollen nach Farben. Katja darf da nicht ran, weil sie immer selbst kneten will. Für ihre Arbeit erhält sie ein kleines Gehalt. Sieben Jahre etwa hat die Eingewöhnung gedauert, bis die Eltern nicht mehr jeden Abend nach Dresden fahren mussten, um ihre erwachsene Tochter auszuziehen, zu waschen und ihr eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen. Heute kommt sie weitgehend allein klar, weil die Betreuung vor Ort intensiv und vor allem liebevoll ist. Katja fühlt sich wohl, sie geht mit einem Betreuer einkaufen und nimmt an kleinen Ausflügen teil.
Freitag bis Montag wollen die Nellens eine normale Familie sein. Sie gehen spazieren, bereiten gemeinsam die Mahlzeiten zu, gehen schwimmen, bowlen und neuerdings sogar ins Theater. Abends gucken sie fern. Katjas Lieblingssendung ist „Elefant, Tiger und Co.“ Rosamunde Pilcher-Filme bewegen sie sehr, Märchen auch. Aber die Eltern stehen dabei ständig unter Strom. Katja darf zum Beispiel nie Gegenstände in beiden Händen halten, wenn sie eine Treppe runter will. Sonst stürzt sie. Nachts geht sie zwar allein zur Toilette, aber manchmal müssen sie morgens wischen. Wechselsachen haben sie immer dabei. Allein lassen können sie Katja nie. Aus der Familie traut sich niemand auch nur eine stundenweise Betreuung zu.
Dienstag bis Donnerstag brauchen sie dann, um sich zu erholen. Frau Nellen war schon an Burnout erkrankt, ihr Mann hatte damals beide Frauen zu versorgen. Er ist sich sicher, dass er das nicht noch einmal schaffen wird.
Umso mehr ärgert sie, wenn Behörden bürokratisch entscheiden. Unlängst war das Kindergeld gestrichen worden, weil sie ja nicht mehr so viel betreuen müssten. Die Nellens beziehen normale Renten, sie hätten das finanziell irgendwie hinbekommen. Aber das Ansinnen hat sie wahnsinnig aufgeregt, bis es endlich aus der Welt war. Der neuste Fall: Katja und ihrer Mutter wurde die dringend benötigte Kur bewilligt – ihm aber nicht. Obwohl sie glaubhaft versichern, dass Frau Nellen mit der Rund-um-die-Uhr-Betreuung ihrer Tochter allein überfordert wäre. Die Eltern müssen sich abwechseln können. Aber da führte kein Weg rein. Jetzt ist die Stiftung Lichtblick eingesprungen und macht seinen Kuraufenthalt möglich. Das Ehepaar hat sich sehr über diese Unterstützung gefreut. Nun gibt es Hoffnung, dass sie sich alle drei ein bisschen erholen können.
Außerdem hoffen sie dort auf eine Familientherapie. Sie wollen lernen, wie sich die Tochter von ihnen und sie sich von ihrer Tochter lösen können. Es muss sein, wer weiß wie lange die Kraft noch reicht. Unter ähnlichen betroffenen Eltern ist dieses Thema ein großes, und manche „Lösung“, die da diskutiert wird, ist so drastisch, dass sie besser nicht aufgeschrieben wird.
Katja hat während des Gespräches dabei gesessen und das neue Puzzle ausprobiert, die Freitags-Überraschung. Die Mutter half ihr beim Rahmen, aber dann hat sie in einem erstaunlichen Tempo die über 100 Teile zusammengebaut, und zwar völlig richtig. Sie strahlt. Erst recht, als sie alle am Tisch loben. Jetzt strahlen auch die Eltern, und die tiefen Sorgenfalten sind für einen Moment kaum wahrnehmbar.
Autor: Olaf Kittel