Malon tobt durchs Wohnzimmer der Döbelner Plattenbauwohnung, mal mit, mal ohne Ball. Und prompt stößt er sich an einem Schrank. Der Zweieinhalbjährige verzieht das Gesicht, ruft „aua, aua“, hält sich den Kopf und läuft zum Opa. Der bleibt ruhig, streichelt den Jungen und pustet aufs Wehweh. Dabei riecht Jens G., dass es da noch ein Malheur gibt. „Eingekackert?“, fragt er Malon. Und ohne die Antwort abzuwarten steht er langsam und ein bisschen mühsam auf, hebt den Jungen auf den Arm und sagt ganz unaufgeregt:
„Komm, Bude saubermachen“.
Die beiden kehren nach erstaunlich kurzer Zeit fröhlich aus dem Bad zurück. Problem gelöst. Bald werden die schmutzigen Sachen sauber gewaschen zusammen mit der anderen Kinderkleidung auf dem Balkon hängen.
Eindeutig: Jens G. hat inzwischen Übung. Aus dem alleinstehenden 54-jährigen ist im Sommer 2022 ein alleinerziehender Opa geworden. Von heute auf morgen, ohne Vorwarnung.
Bis dahin hatte er ein wechselvolles Leben, neben schönen gab es auch schon vorher schwere Zeiten. Aufgewachsen ist er im Döbelner Umland, wohl behütet in einer fünfköpfigen Familie. Er lernte Umformer in einer Metallfabrik, erwarb den Lkw-Schein, weil er nicht sein Leben lang an einer Presse stehen wollte. Die Armeezeit kam dazwischen, er wurde noch 1989 zur NVA eingezogen. Mitten hinein in die Dienstzeit kam die Wende, statt nach 18 Monaten wurde er im Winter 1990 schon nach einem Jahr entlassen. Sogar mit einer Abfindung, weil nach bundesdeutschem Recht Familienväter nicht eingezogen wurden. Geheiratet hatte er während der Armeezeit, seine älteste Tochter war schon geboren, die jüngere Tochter Lisa folgte etwas später. Danach wurde er tatsächlich Lkw-Fahrer. Zunächst fuhr er Milch, Gemüse und Schokoriegel für den Kraftverkehr, später zog es ihn als Fernfahrer zu einer Spedition in den Westen. Viele Jahre lenkte er seinen Transporter kreuz und quer durch Europa, kam nur manchmal heim, lernte die harten Bedingungen und so manche Ausbeutungsmethode der Branche am eigenen Leib kennen. Einmal musste er sieben Wochen am Stück unterwegs sein.
Malon, frisch verpackt, tobt inzwischen wieder durch die Stube, es poltert, ab und zu fällt etwas runter. Den Opa bringt das nicht aus der Ruhe. Nur dann und wann unterbricht er seinen Bericht und ruft Malon ein sanftes „Nicht so dolle“ zu. Es hilft wenig bis nichts. Der Kleine hat gerade Spaß daran, stets das Gegenteil zu tun. Und der Opa lässt ihm den Spaß.
2006 ist die Ehe von Jens G. am Ende, „ohne großen Stress“. Es folgen „wilde Jahre“, wie er sich ausdrückt. Bis er seine Lebenspartnerin Amanola kennenlernt, eine patente Frau aus der Region, nur ihr Name ist spanisch. Eine liebevolle, innige Beziehung entsteht. Er geht wieder auf Fahrt, sie haben trotzdem gute Jahre – bis die schweren kommen. Amanola bekommt Lymphdrüsenkrebs. Er hatte schon seinen Vater und seine frühere Schwiegermutter an die Krankheit verloren. Die erste Erkrankung überstand Amanola, die zweite wurde lebensbedrohlich. Deshalb gab er 2016 die Fahrerei auf, wurde Lagerarbeiter, um wenigstens früh und abends an ihrer Seite zu sein. Anfang 2018 starb sie. Ein schwerer Schlag für ihn.
Malon hat sich unterdessen ausgetobt, wünscht jetzt mehr Aufmerksamkeit und neue Süßigkeiten. Aber da ist der Opa streng: Ein Eis hatte er schon bekommen, als sie von der Kita nach Hause kamen. „Er soll sich gesund ernähren mit allem, was ihm schmeckt. Aber nicht zu viel Süßes.“ Nicht alle Großeltern sind so vernünftig.
In den letzten Jahren lebte Jens G. also allein in seiner Döbelner Wohnung. Seine älteste Tochter wohnt mit ihrer fünfköpfigen Familie in Kyffhäuser. Lisa, seine jüngste, arbeitete als Altenpflegerin in Magdeburg, als Unverheiratete hatte sie viele Nacht- und Wochenenddienste zu leisten. Die fröhliche und lebenslustige junge Frau lernte in Magdeburg einen Mann kennen, den sie besser nicht kennengelernt hätte. Ihr Vater sagt, dass er schwer drogenabhängig ist und den größten Teil seines Erwachsenenlebens im Gefängnis saß. Drogendelikte, Autodiebstähle, Gewalt, unerlaubter Waffenbesitz. Die Beziehung hält nicht lange, er schlägt Lisa, bedroht sie, tritt der Schwangeren in den Bauch. Am 16. Februar 2021 wird Malon geboren, weit genug weg vom Erzeuger. Ihm wird gerichtlich untersagt, sich Lisa und dem Kind mehr als 50 Meter zu nähern.
Nach der Geburt ziehen Mutter und Kind nach Döbeln, der Opa hilft ihnen, wo er kann. Er bringt den Kleinen manchmal in die Krippe, fährt sie zum Arzt. Aber Lisa geht es jetzt immer schlechter: Sie hat Atemprobleme, Sauerstoffmangel lässt Hände und Füße blau anlaufen. Als ein Freund Malon eines Tages morgens in die Krippe bringen will, bleibt die Tür verschlossen. Der Notdienst findet die 33-Jährige tot im Bett. Ihrem Vater steigen noch heute die Tränen in die Augen, wenn er darüber spricht.
Der Medizinische Dienst nimmt den Jungen zunächst für einige Tage mit, um seine Zukunft zu klären. Pflegefamilie? Kann Lisas Schwester ein viertes Kind aufnehmen? Da meldet sich der Opa: „Ich übernehme, ich kann doch nicht auch noch ihn verlieren!“
Leicht gesagt, es stellt sein Leben auf den Kopf. Wie war das mit dem Windeln? Was isst so ein Knirps? Was braucht er für Sachen? Was ist gut für ihn, was schlecht? Was ist zu tun, um das Loch in seiner Herzklappe zu schließen? Wer hilft, damit sein Gehör richtig funktioniert? Was macht man, wenn der Junge nachts zu röcheln anfängt?
Er kündigt seinen Drei-Schicht-Job, er will jetzt erstmal ganz für Malon da sein. „Als Opa versuche ich, ihm Mama, Papa und Oma zu ersetzen.“ Seine große Tochter steht ihm bei, ganz besonders die Diakonie Döbeln mit vielen guten Ratschlägen, mit Hilfe im Bürokratiedschungel. Das Jugendamt. Die Kita sorgt für eine 1:1-Betreuung wegen des Gehörproblems, noch spricht der Junge kaum. Und die Stiftung Lichtblick hilft bei der Einrichtung eines Kinderzimmers. Eine kleine Schrankwand ist schon da, ein Bett wird vom Lichtblickgeld noch angeschafft. Jens G. bedankt sich bei allen Spendern sehr herzlich! Bis das Bett eintrifft, wird Malon weiter mit ihm im Doppelbett schlafen. Der Kleine ist bisher zu ängstlich, um allein im Zimmer zu sein.
Tagsüber ist Malon gar nicht ängstlich, eher im Gegenteil. Jetzt kommt er mit seinem Lieblingsshirt in der Hand, unterbricht den Opa und will das unbedingt angezogen haben. „Ja, ja, das Wau-wau-Shirt“, meint Jens G. und hilft dem Jungen beim Umziehen. Malon strahlt. „Opa macht alles für dich. Ich würde mit dir auch zum Mond fliegen, wenn du das willst.“
Seit über einem Jahr leben die beiden zusammen, der Tagesablauf ist inzwischen Routine. Sie stehen morgens zusammen auf, frühstücken, dann fährt der Opa den Enkel in die Kita - mit dem Auto, Malon begeistert das jeden Tag aufs Neue. Anschließend ist Zeit für Besorgungen, die Wäsche, für den Haushalt. Nachmittags holt er Malon wieder ab, sie spazieren oder spielen. Abends gehen beide zusammen 20 Uhr ins Bett – „sonst schläft Malon nicht ein.“ Seine Lieblingssendungen im Fernsehen verpasst er seither. Sein Motorrad steht ungenutzt in der Garage, das Rauchen hat er aufgegeben. Alles für Malon. Gerade freut sich der Opa über seine Fortschritte: „Er räumt den Geschirrspüler mit aus und weiß, wo was hingehört. Er deckt den Tisch. Er zieht die Schuhe selbst an.“
Jens G. ist noch arbeitslos, das Amt sucht gerade einen Job für ihn, der zum alleinerziehenden Opa passt. Und zu seiner Gesundheit. Er lebt mit einem Herzschrittmacher, hat Diabetes, ist kurzatmig. Diese Probleme machen ihm Sorgen. „Ich muss doch funktionieren.“ Und da ist noch „das Problem mit Malons Erzeuger“, wie er sich ausdrückt. Noch sitzt er bis Sommer im Gefängnis. Im Oktober setzte er aber das Umgangsrecht gerichtlich durch. Jetzt soll Malon zweimal im Monat auf Staatskosten von Döbeln nach Halle ins Gefängnis gefahren werden. Der Opa macht sich Sorgen, dass das den Enkel völlig durcheinander bringt. Er soll sich doch so normal wie möglich entwickeln.
„Ich wünsche Malon, dass er auf die Beine kommt, ein ehrlicher Mensch wird, mal so fröhlich ist wie seine Mama und so hilfsbereit.“ In reichlich 15 Jahren dann, wenn Malon 18 wird, kann er machen was er will, meint Jens G..
Und dann, als Altersrentner, kann er vielleicht doch noch mal die klassische Opa-Rolle genießen.
Text: Olaf Kittel