Sind wir hier wirklich richtig? Auf dem Campingplatz an der Talsperre ist an diesem sehr kühlen Mai-Nachmittag weit und breit niemand zu sehen. Kein Wunder, es ist nass und ungemütlich. Aber nach einigem Suchen winkt doch einer aus einem überraschend großen und modernen Wohnanhänger. Er bittet herein, und drinnen gibt’s die nächste Überraschung: Der Tisch in der Sofaecke ist mit weißem Tuch und feinem Kaffeeservice gedeckt. Frischer Kaffee und ein Teller mit Schnittchen stehen bereit. Den Besuch bei einem Mann, der das ganze Jahr auf einem Zeltplatz lebt und hier in Not geriet, den haben wir uns ein bisschen anders vorgestellt. Warum Wolf-Dieter Merkel auf einem Campingplatz landete und wie seine Probleme entstanden, darüber berichtet der 65-Jährige in seinem Wohnwagen ganz ohne Umschweife und von Anfang an.
Geboren wurde er in Meißen. Aufgewachsen ist er im Landgasthof „Elbschlößchen“ in Gauernitz direkt an der Elbe, den seine Eltern betrieben. Viele Sachsen werden ihn kennen. Erst sollte er Bäcker werden. Dann lernte er doch lieber Koch. „Im Interhotel in Dresden“, meint er ein bisschen stolz, war ja damals die beste Adresse. Nach der Armeezeit übernahm er dann mit jugendlichen 24 Jahren die Schweizermühle in Rosenthal in der Sächsischen Schweiz. Die rustikale Pension ist Wanderern und Kletterern bestens bekannt. 1990, als es ernst wurde mit der Marktwirtschaft, stieg Wolf-Dieter Merkel mit seiner Frau im „Elbschlößchen“ der Eltern ein und entwickelte das Haus am Wasser zum Fischlokal. „Wir arbeiteten sehr hart, um uns zu behaupten. Einen Achtstundentag hatten wir das ganze Leben lang nicht“, sagt er. Der Gasthof war bekannt, es lief ganz gut – bis er gänzlich unbeabsichtigt noch viel bekannter wurde:
Während des August-Hochwassers 2002 stand das Gebäude komplett im Wasser. Es gehörte zu den vielleicht zwei Dutzend Gebäuden in Sachsen, über die immer wieder in den Medien berichtet wurde. „Es war damals sehr hart“, erzählt Merkel. „In kurzer Zeit wurde aus unserem Gasthof eine Ruine mit Stromanschluss.“ Er, seine Familie, Freunde und Helfer haben um das Haus gekämpft und es tatsächlich wieder hergerichtet. 1,2 Millionen Euro Schaden war entstanden, den zum Glück die Versicherung übernahm. Mit dem Geld kam allerdings auch die Kündigung der Versicherung. Prompt setzte die Januar-Flut 2006 das Haus erneut unter Wasser. Diesmal entstand „nur“ ein Schaden von 40.000 Euro. Jetzt noch einmal von vorn anfangen? Und beim nächsten Hochwasser noch einmal? Da kam das Angebot wie gerufen, ein kleines Hotel mit Restaurant bei Quedlinburg zu übernehmen.
Kurz entschlossen zog Merkel mit seiner Frau ins Harzvorland. Auch dort wartete viel Arbeit. Sie mussten investieren, bis der Laden lief. Und dann, elf Monate nach dem Umzug und nachdem sie viel Geld und Herzblut in das neue Objekt gesteckt hatten, verließ ihn seine Frau nach 33 Ehejahren. Wolf-Dieter Merkel hat es bis heute nicht verwunden. Er hielt noch eine Zeit lang allein durch. Dann konnte er nicht mehr. Er verkaufte sein Objekt und wollte zurück in die Heimat, auch, um seine betagte Mutter in der Nähe zu haben. Von seinem Geld hätte er sich ein altes Haus kaufen können, aber die Kraft reichte nicht mehr, zum x-ten Mal von vorn anzufangen. „Und in ein Betonschließfach ziehen wollte ich auch nicht.“ Also kaufte er sich vom Hauserlös einen großen, fast neuen Wohnanhänger mit allem Drum und Dran und suchte einen Campingplatz, der das ganze Jahr geöffnet ist und seine neue Heimat werden könnte. Viel Auswahl gibt’s da nicht.
Er fand schließlich den Campingplatz Paulsdorf an der Talsperre Malter, besorgte sich noch einen kleinen alten Wohnanhänger, der ihm als Abstellraum dient – und fühlt sich hier nun schon seit sieben Jahren wohl. Die Vorteile liegen für ihn auf der Hand: „Ich zahle nur 80 Euro Standmiete im Monat. Es gibt gute Sanitäreinrichtungen auf dem Platz. Ich habe hier Bett, Fernseher, Kühlschrank und muss nicht so viel saubermachen. Und es gibt viele nette Leute.“ Und wie ist das so im Winter? „Ja, dann sitze ich oft allein hier. Dann mache ich mir manchmal einen Glühwein heiß, gehe runter an den Strand, sitze dort ein Stündchen und gucke auf das Wasser.“ Feste Arbeit hat der heute 65-Jährige, dem das Leben tiefe Furchen ins Gesicht gezeichnet hat, nicht gefunden. Er hat sie wohl auch nicht mehr gesucht. „Ich war 27 Jahre selbstständiger Gastronom“, sagt er. Das muss reichen als Antwort. Gelegentlich übernimmt er Jobs, aber Gelegenheitsarbeiter sind in der Gastronomie offenbar gerade weniger gefragt. Deshalb lebt er von Bürgergeld.
Ab nächstem Jahr gibt es Rente. Magere 348 Euro erwartet er. Ohne Aufstockung wird es nicht gehen. Aber das Leben ist ja preiswert auf dem Campingplatz. Dachte er. Aber da hat er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn auf Campingplätzen kann die Dauermiete günstig sein, die Nebenkosten sind es nicht. Die Stromkosten etwa sind hoch, offenbar überall in Deutschland. Und dann explodierten ja auch noch die Energiekosten. Seither zahlt Wolf-Dieter Merkel 65 Cent pro Kilowattstunde. Sein Verbrauch ist hoch, auch wenn er schwört, dass er kaum mit Strom heizt, sondern fast nur mit Gas. Seither grübelt er, wie der hohe Verbrauch zustande gekommen sein kann. Eine nachvollziehbare Erklärung hat er bis heute nicht gefunden. Lange konnte er die Stromrechnungen irgendwie bezahlen, auch wenn sie einen erheblichen Teil seiner Einnahmen verschlangen. Er hat inzwischen auch gelernt, dass Bürgergeld-Beziehern vom Amt zwar die Miete übernommen werden kann, nicht aber die Stromkosten. Dass die höher sind als die Miete, das ist in den Vorschriften nicht vorgesehen.
Und dann kam im Januar der Hammer: Er sollte für das vierte Quartal 700 Euro Energiekosten bezahlen, aber sein Konto war leer. Er konnte die Rechnung nicht begleichen. Am 25. Februar, noch mitten im Winter, wurde ihm der Strom abgeschaltet. Jetzt saß er auf dem verwaisten Campingplatz in seinem Wohnanhänger im Dunkeln. Wochenlang. Ein Hilferuf erreichte Elke Klein-Nowoisky von der Diakonie in Dippoldiswalde. Sie fuhr zu Herrn Merkel, sah ihn bei Kerzenlicht in seinem Elend. Sie prüfte die Abrechnungen, fand keinen Fehler. Auch ihr ist bis heute unklar, wie eine solche
Summe in einem Wohnwagen zustande kommen kann. Sie überlegte, ob sie es rechtfertigen kann, Herrn Merkel zu helfen, und kam zu dem Schluss, dass einem Menschen, wenn er im Winter in diese Lage gerät, die Hand gereicht werden muss. „Zumal in seinem Alter, in dem man schneller krank werden kann. Wir sollten hier nicht dauerhaft helfen, aber einmalig schon.“
Es geht also um Hilfe in Not. Deshalb beantragte Elke Klein-Nowoisky bei der Stiftung Lichtblick, die sich auf einmalige Notfälle konzentriert, die Stromkosten zu übernehmen. Nachdem die Sozialbetreuerin die Hilfsbedürftigkeit bestätigt hatte, ging alles sehr schnell und unbürokratisch: Lichtblick überwies die 700 Euro aus Spendenmitteln der Leser der Sächsischen Zeitung. Wolf-Dieter Merkel hat seit 2. Mai wieder Strom. „Ich bin Lichtblick dankbar, ich saß mächtig in der Patsche“, sagt er dazu und hat sich vorgenommen, einen solchen Reinfall künftig unbedingt zu vermeiden. „In eine solche Situation will ich nie wieder kommen. Das war totaler Mist“, sagt Merkel.
Von nun an will er deshalb seine Rechnungen monatlich bezahlen, damit keine so hohen Beträge zustande kommen können. Außerdem hat er sich fest vorgenommen, etwas zurückzugeben für die freundliche Hilfe. Beim nächsten Singletreff der Diakonie in Dippoldiswalde will der erfahrene Gastronom für alle kochen. Er hat da auch gleich drei Rezeptvorschläge parat, die er Frau Klein-Nowoisky mit auf den Weg gibt. Gänsekeulen und Rouladen sind dabei. Sie bestätigt ihre Erfahrung: Menschen, die Hilfe bekommen haben, möchten möglichst umgehend etwas zurückgeben.
Eine Sorge treibt Wolf-Dieter Merkel jetzt noch um: Dass ihm die Campingplatz-Leitung übelnimmt, seine Geschichte öffentlich gemacht zu haben. Aber er will damit ja nur den Lesern der Sächsischen Zeitung Danke sagen, die ihm mit ihrer Spende geholfen haben. Keineswegs möchte er jemanden für sein Problem verantwortlich machen. Denn er fühlt sich wohl auf diesem Campingplatz und möchte gern hierbleiben. Und dann kommt er noch einmal ins Schwärmen von den freundlichen Campern, von den einsamen Wintertagen am See und von den fröhlichen Sommerabenden am Lagerfeuer.
Text: Olaf Kittel