Kurz vor Weihnachten kauften sie drei Kilo Jagdwurst für zehn Euro im Sonderangebot. Die Wurst gab es inzwischen zum Abendbrot, sie kochten sich eine Soljanka zum Mittag, viel wurde im Kühlfach eingefroren für später. Gefunden haben sie das Angebot im „Wochenkurier“, auf den Gisela und Joachim Köpke jede Woche warten und ärgerlich werden, wenn die Lieferung mal ausbleibt. Denn die Anzeigen bestimmen ihren Einkaufsplan. Aber im Prinzip wissen sie schon Bescheid: Fleisch und Wurst kaufen sie in der Regel bei Edeka, bei Aldi schmecken ihnen Brot und Brötchen am besten, bei Netto holen sie die Getränke. Den Rest bei Penny um die Ecke. Neulich fanden sie noch eine Wintermütze für ihn für einen Euro. Sie wärmt gut.
Die Köpkes, sie 61, er 59, leben in einer einfachen Altbauwohnung an einer verkehrsreichen Straße in Meißen. Für die Wohnung zahlen sie 4,50 Euro pro Quadratmeter, aber für die Ämter sind die 85 Quadratmeter zu viel. Sie sollen umziehen, wissen aber inzwischen ziemlich genau, dass sie für eine kleinere Wohnung auch nicht weniger bezahlen würden. Ganz abgesehen davon haben sie keine Ahnung, wie sie einen Umzug finanzieren sollten, sie haben keine Rücklagen. Die zugesagte Umzugsbeihilfe reicht nicht mal zum Einbau der Küche. Immerhin sind sie vor ein paar Wochen endlich ihr Auto losgeworden, das monatelang beim Händler stand. Joachim Köpke kann aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr fahren, seine Frau hat es nicht gelernt. Jetzt müssen sie die monatliche Rate nicht mehr aufbringen, eine große Erleichterung für die Haushaltskasse. Sie haben inzwischen gelernt: Zu Fuß kommt man auch voran.
Joachim Köpkes Leben verlief lange Zeit ziemlich normal, Er ist in Meißen geboren, bei Riesa aufgewachsen, hat Landmaschinen- und Traktorenschlosser gelernt. Er fuhr dann in einer LPG Traktor und Mähdrescher, in der Erntezeit auch Tankwagen und im Winter Schneepflug. Mit 25 zog er nach Nünchritz, wurde im dortigen Chemiewerk Rangierleiter. Drei mal am Tag kam ein Güterzug mit Chemikalien an, die Waggons koppelte er mit seinen Kollegen auseinander, leitete sie weiter und stellte sie dann zu Zügen neu zusammen. „Das ging bis 1990 gut. Dann erst ging das Elend los.“ Die neue Werkleitung legte Abteilungen zusammen, sparte Personal ein. Die Marktwirtschaft war da.
Für ihn hieß das erst Kurzarbeit, dann Kurzarbeit null, noch 1990 kam die Kündigung. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit wurde er Lkw-Fahrer. „Das war das Gute in der DDR: Man konnte den Lkw-Führerschein in der Lehre machen. Heute könnte ich den gar nicht mehr bezahlen.“ Er arbeitete für mehrere Speditionen, die schönste Zeit hatte er in einer Regensburger Firma. Er fuhr jede Woche nach Frankreich. „Da habe ich immer was mit nach Hause gebracht, Rotwein oder Käse.“ Dann wurde ihm wegen schlechter Auftragslage gekündigt, es folgte eine bittere Zeit der Arbeitslosigkeit. Aber er fand auch da wieder raus. Viele Jahre begleitete er dann Schwertransporte, fuhr selbst ein Begleitfahrzeug. Für 1.400 Euro brutto im Monat. Es hat ihm aber Spaß gemacht, auch wenn er meist die ganze Woche nicht zuhause und viel nachts unterwegs war.
Vor vier Jahren musste er sich einer Augen-Operation unterziehen, seine Sehkraft wurde immer geringer, sie liegt heute bei 25 bis 30 Prozent. Seine Netzhaut löst sich auf. Zuletzt arbeitete er nur noch 15 Stunden in der Woche, 2017 wurde ihm aus gesundheitlichen Gründen gekündigt. Klar, ein Schwerlastbegleiter sollte gut sehen können. Aber da war Joachim Köpke bereits 57 Jahre alt. Seine Frau Gisela hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Sie ist in Meißen aufgewachsen, hat nach der Schule in Dresden an der Medizinischen Fachschule, die Einrichtung gibt es heute nicht mehr, Krippenpädagogik studiert. Anschließend war sie Erzieherin in einer Krippe in Meißen, in der viele Beschäftigte der Porzellanmanufaktur ihre Kinder unterbrachten. Dann bekam sie selbst zwei Kinder, und als sie 1991 wieder arbeiten wollte, hatte die Krippe dicht gemacht. Auch sie sagt diesen Satz, den ihr Mann kurz vorher über seine Erlebnisse nach der Wende nahezu wörtlich auch so gebraucht hatte: „Dann ging das Elend los.“
Sie wurde arbeitslos, absolvierte eine Umschulung als ärztliche Helferin, aber ein fester Job sprang trotz aller Bemühungen und obwohl sie manchmal ganz dicht dran war, nicht heraus. Sie begann Anzeigenzeitungen auszutragen und übernahm immer wieder Ein-Euro-Jobs. Besonders gern arbeitet sie im Kinder- und Jugendhaus Meißen, kocht und bastelt da mit den Kindern. Für anderthalb Jahre hatte sie dort auch mal einen festen Job, bevor die Stelle wieder gestrichen wurde. Außerdem ist sie Kirchenaufsicht für 4 bis 5 Stunden am Tag. Inzwischen ist es zur Gewohnheit geworden, dass sie immer im Sommer ein halbes Jahr arbeitet, mehr ist ja auf Ein-Euro-Basis nicht erlaubt.
Gisela und Joachim Köpke sitzen nun in ihrer 85-Quadratmeterwohnung, die im Winter schlecht beheizt wird, und überlegen, wie sie über die Runden kommen. Wie sie einerseits sparen können. Herr Köpke etwa geht zu den Fußballspielen seines Lieblingsvereins immer erst in der Halbzeitpause, wenn es nichts mehr kostet. Und wie sie andererseits etwas dazuverdienen können. Sie bekommen jetzt zusammen knapp 1.200 Euro vom Amt. Frau Köpke erhält für das Austragen der Zeitungen um die 100 Euro dazu. Wenn es mal 30 Euro mehr sind, wird das von den Sozialleistungen abgezogen. Deshalb muss sie regelmäßig zum Amt und die Kontoauszüge vorlegen.
Ihr Mann kann seinen Beruf wegen der Augenprobleme nicht mehr ausüben, er darf nicht mehr fahren, nicht schwer heben, muss Staub und Hitze meiden. Er hat deshalb auch angefangen, die Kirchenaufsicht zu übernehmen, selbst wenn das manchmal ganz schön langweilig ist. Zum Tag des offenen Denkmals aber ist es schön, dann übernimmt er Turmführungen, das macht ihm Spaß. Außerdem hilft er auf dem Friedhof mit, mäht Rasen, ebnet Gräber ein.
Die Anzeigenzeitungen, die sich in den Häusern ansammeln, bringen auch etwas Geld. Wenn er genug davon zurückgelegt hat, holt er einen Wagen aus dem Keller und fährt die Stapel in die Sammelstelle. Drei Euro kommen da zusammen. „Die stecke ich dann nicht ins Portmonee, sondern lege sie zur Seite. Sonst gibt man die ja zu schnell wieder aus.“
Im heißen Sommer 2019 kam auch noch Pech dazu. Die Kühlkombi, die Mikrowelle und die Waschmaschine gingen fast gleichzeitig kaputt. Vor allem ohne Kühlschrank geht es für die beiden gar nicht. Frau Köpke hatte dann zufällig zum ersten Mal von der Stiftung Lichtblick gehört und sich durchgefragt. Und tatsächlich, ihr Sozialbetreuer vom Diakonischen Werk in Meißen wusste, wie den Köpkes geholfen werden kann. Er stellte einen Antrag bei Lichtblick, und die Stiftung überwies aus den den Spendenmitteln der SZ-Leser das Geld für eine neue Kühlkombi und eine Waschmaschine. Sehr viel für sie, betonen beide und bedanken sich herzlich. Inzwischen sind die preiswerten Geräte angeschafft, die Jagdwurst ist zuverlässig eingefroren.
Wird’s denn besser, wenn sie Rente beziehen? Leider nicht. Sie erwarten beide Renten zwischen 400 und 460 Euro, sie werden sie aufstocken müssen. „Von welchem Amt auch immer“, meint Frau Köpke. „Aber wir wollen nicht klagen. So schlecht geht es uns nicht.“ Und sie fügt einen bemerkenswerten Gedanken hinzu: „Wir bleiben aktiv. Man muss ja nicht immer Geld für seine Arbeit bekommen.“
Autor: Olaf Kittel